Die Geschichte der ausseruniversitären Naturforschung in der Schweiz um 1900 mag auf den ersten Blick wenig Bezug zu heutigen (geographischen) Fragestellungen haben. Aber dieser Eindruck täuscht: Viele ausseruniversitäre Institutionen der beschriebenen Zeit sind noch heute – teilweise unter anderem Namen – aktiv und wichtige Akteure bei Fragestellungen zu Mensch-Umwelt-Beziehungen. Gerade für an transdisziplinären Prozessen interessierte Forschende bietet die Auseinandersetzung mit der Geschichte und Rolle ausseruniversitärer Forschungsakteure deshalb wertvolle Einsichten und Erkenntnisse.
Das von Tobias Scheidegger im Rahmen seiner Dissertation am Institut für Populäre Kulturen erstellte Werk ist umfangreich: In sieben Kapiteln wird die ausseruniversitäre Naturforschung um 1900 in der Schweiz beschrieben und mit knapp 150 Abbildungen reich illustriert. Der Autor greift auf archivalische Quellen in Form von Handschriften und Nachlässen aus Naturmuseen und Staatsarchiven sowie auf gedruckte Quellen wie die Jahresberichte von Naturforschenden Gesellschaften und wissenschaftliche Literatur zurück.
In der Einleitung beschreibt der Autor, wie er sich dem Thema der naturkundlichen Freizeitforscher um 1900 angenähert hat. Während er diese zu Beginn primär als ein wenig „verschrobene“ Liebhabersammler wahrnahm, wurde ihm im Verlaufe der Zeit die Bedeutung dieser Naturaliensammler für „die Wissenschaft“ stärker bewusst. Scheidegger verwendet den Begriff der „Petite Science“ – den er aus von ihm analysierten Quellen entnimmt – um die Aktivitäten der Lokalforscher zu beschreiben. Ihr systematisches Vorgehen und die Aufbereitung der Erkenntnisse gleicht jener der universitären Forschung. Sie deshalb als „Amateurforschung“ zu klassifizieren würde ihrer Bedeutung kaum gerecht: Die Akteure der Petite Science organisierten sich in der 1815 gegründeten Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft respektive in ihren kantonalen Sektionen. Einige dieser Sektionen führten zudem (naturhistorische) Lokalmuseen. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielten die Kantonsschulen mit ihren naturhistorischen Sammlungen. Scheidegger bezeichnet deshalb die drei Institutionen Lokalmuseum, kantonale Naturforschervereine und Kantonsschulen als das tragende Gerüst der Petite Science. Oft wurden diese drei Institutionen eines Kantons durch einen zentralen Akteur verkörpert: Der Naturkundelehrer der Kantonsschule war üblicherweise auch Leiter des naturhistorischen Museums und Präsident des kantonalen Naturforschervereins. Oft waren dies studierte Naturwissenschaftler mit Doktortitel und breitgefächertem Interesse im Sinne eines „Universalgelehrten“. Die männliche Bezeichnung wurde übrigens bewusst gewählt: Gemäss Scheidegger handelte es sich um eine (klein)bürgerliche Männerwissenschaft: Die aktive Beteiligung von Frauen war ebenso rar wie die Mitwirkung von Akteuren aus der Arbeiterklasse.
Das erste und zweite Kapitel widmet sich den Sammlungsweisen und der Aufbereitung von Katalogen und Listen der Sammlungsobjekte. Dabei werden vom Autor Auszüge aus lokalen Katalogen und Listen unterschiedlicher Pflanzen und Insekten präsentiert und in Bezug zur Katalogisierung der Hochschulen gesetzt.
Das dritte Kapitel zeigt auf, wie die sozialen Beziehungen innerhalb der Petite Science funktionierten: Lesezirkel, Tauschkreise, kollektive Sammelprojekte, aber auch der kommerzielle Handel strukturierten diese Netzwerke. In Kapitel vier wird dargestellt, dass es innerhalb der Gemeinschaft der Petite Science mitunter heftige Streitereien und Konkurrenz gab. Diese vier Kapitel sind reich illustriert und mit Details und Anekdoten ergänzt. Für den schnellen Leser werden hier relativ oft Seitenpfade eingeschlagen oder zumindest angedeutet, die es manchmal schwierig machen, den roten Faden nicht zu verlieren. Da helfen die Zwischenfazite, die die wesentlichen Punkte nochmals hervorheben.
Der Fokus dieser Rezension liegt aufgrund der eigenen Interessen des Rezensenten bei den Kapiteln fünf bis sieben, die nun etwas ausführlicher beschrieben werden:
Kapitel fünf untersucht die institutionelle Rahmung der naturhistorischen Lokalforschung. Scheidegger zeigt dabei anhand von fünf von ihm als „Zentrumsakteure“ klassifizierten Personen auf, wie die Vernetzung zwischen lokalen Naturmuseen, Schulen und Naturforschervereinen funktionierte. Die vom Autor ausgewählten Personen stammen aus den nicht-universitären Kantonshauptstädten Chur, Frauenfeld, Liestal, Luzern und Solothurn. Alle fünf Zentrumsakteure absolvierten ein naturkundliches Hochschulstudium, vier von ihnen verfassten eine Promotion und alle fünf wurden nach ihrer Hochschulzeit Naturgeschichtslehrer an der höheren Schule ihres Wirkungsortes. Damit verbunden bestand die mehr oder weniger ausdrückliche Verpflichtung, sich im Nebenamt um die Verwaltung des lokalen Naturgeschichtsmuseums zu kümmern. Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren diese Institutionen noch stark mit den Kantonsschulen verflochten und mit den kantonalen Naturforschenden Gesellschaften. Deshalb waren die Zentrumsakteure gleichzeitig mit ihrer Lehrverpflichtung auch im Präsidium der kantonalen Naturforschenden Gesellschaften vertreten. Die Museen waren zu Beginn oft in den Räumlichkeiten der Kantonsschulen untergebracht. Durch die Initiative der Zentrumsakteure wurde jedoch die Errichtung eigenständiger Naturmuseen ermöglicht. Die dort ausgestellten Tiere und Pflanzen stammten oft aus den Sammlungen der Mitglieder der Naturforschenden Gesellschaften. Scheidegger zeigt dabei anhand von interessanten Fallbeispielen auf, wie die Zentrumsakteure ihren Einfluss geltend machen konnten, um einerseits an für sie interessante Sammlungen zu gelangen und andererseits auch den Austausch mit anderen Institutionen – darunter auch die Hochschulen – zu pflegen. Mit eigenen Publikationsorganen, Beiträgen in lokalen Zeitungen, öffentlich zugänglichen Ausstellungen, Exkursionen für Schulklassen und weiteren Aktivitäten stieg dabei das soziale Prestige der Zentrumsakteure – und der mit ihnen verbundenen Akteuren – stetig an. Ihren sozialen Aufstieg und ihre begüterte Lage machten die Zentrumsakteure durch den Bau standesgemässer „Professorenvillen“ sichtbar.
In Kapitel sechs wird aufgezeigt, wie die Lokalforscher Landschaft als Ort der Erkenntnis und des Erlebnisses nutzten. Zu Beginn des Kapitels zeichnet Scheidegger die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Laborarbeit einerseits und die Feldarbeit andererseits nach: Die bereits vorgestellten Zentrumsakteure vertraten dabei die Ansicht, dass die „freie Landschaft“ das geeignete Labor zur Erforschung der lokalen Flora und Fauna sei. Gerade auf lokalem oder kantonalem Niveau ging es den Akteuren mitunter darum, die Verbreitung einzelner Arten aufzuzeigen. Gleichzeitig wurden Versuche unternommen, einzelne Pflanzen oder Muscheln im Sinne von „Akklimatisierungsversuchen“ an unterschiedlichen Orten einzupflanzen oder auszusetzen. Häufig geschah dies nicht unter enger Beobachtung oder Dokumentation. Dies konnte dazu führen, dass solche ausgesetzten Arten von nicht informierten Forschern als „Neuentdeckung“ gehandelt wurden. Ferner entfachten solche Aussetzungen Zwist innerhalb der Naturforschenden Gesellschaften, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die lokal vorkommenden Arten zu erheben und zu beschreiben: Durch die Aussetzungen wurde diese „natürliche Ordnung“ gestört und verfälscht. Mit dem zunehmenden globalen Handel – Scheidegger zeigt dies anhand der Kammgarnspinnerei Derendingen auf, die australische Wolle verarbeitete – wurden auch eingeschleppte Pflanzen (sogenannte „Neophyten“) thematisiert.
Daneben entstanden weitere Herausforderungen für die Naturforschenden: Durch ihre rege und akribische Publikationstätigkeit wurden die Standorte beliebter und/oder seltener Pflanzen von einer Vielzahl Interessierter aufgesucht. Zur Befriedigung der eigenen Forschungstätigkeit wurden die Pflanzen ausgerissen oder abgeschnitten und damit deren Bestand gefährdet. Dies und die Auswirkungen der Industrialisierung führten mit dazu, dass der Naturschutz im Sinne des Schutzes der „heimischen Flora und Fauna“ an Bedeutung zunahm: Es wurden nationale und kantonale Naturschutzorganisationen gegründet und Inventare von schützenswerten Landschaften und Naturdenkmälern erarbeitet. Scheidegger zeigt dabei auf, dass die Motivation für solche Bestrebungen durchaus mit einem Eigennutz der Naturforschenden verbunden war: Sie wollten damit sicherstellen, dass ihre Exkursions- und Forschungstätigkeiten auch mittel- und langfristig möglich bleiben. Der enge Kreis der Naturforschenden weitete sich dabei immer stärker auf weitere Bevölkerungsschichten aus: Naturkundliche Exkursionsberichte enthielten zunehmend touristische Hinweise auf empfohlene Gaststätten und bequem zugängliche Pfade. Berichte über die südländisch geprägte Alpenflora verstärkten den Mythos des „alpinen Südens“ und förderten damit den alpinen Tourismus. Durch die Aktivitäten und Beschreibungen der „heimischen Flora“ durch die Naturforscher wurde die „Heimat“ immer stärker an konkrete Landschaften geknüpft. Damit „produzierten“ die Naturforscher Landschaftsbilder, die einen grossen ästhetischen Genuss versprachen und Sehnsuchtsorte fern des (industrialisierten) Alltags und der Städte waren.
In Kapitel sieben wird die Petite Science als „Heimwissenschaft“ und „Heimatmaschine“ porträtiert. Der Autor zeigt auf, welche Bedeutung das eigene Haus und der eigene Garten für die Naturforscher innehatte und wie insbesondere das Studierzimmer für (fotografische) Selbstinszenierungen genutzt wurde. Einmal mehr verschwammen die Grenzen zwischen Privatperson, Lehrer, Museumsvorsteher, Präsident des Naturschutzvereins und Forscher: Im Studierzimmer wurden Sammlungsgegenstände aus den Museen analysiert, eigene Fundstücke präpariert und Schulstunden vorbereitet. Scheidegger kann diese Mäandrierung der Tätigkeiten anhand von Tagebucheinträgen der Zentrumsakteure beschreiben und stellt dabei die Frage, welche Rolle die Familie und insbesondere die Ehefrauen in dieser Welt einnahmen: Dazu sind nur sehr wenige schriftliche Hinweise überliefert. Manchmal wird die Gastfreundschaft der Ehefrauen in den Nachrufen der Zentrumsakteure erwähnt. Ob und in welcher Art sie die Männer bei ihren naturforschenden Tätigkeiten unterstützten, ist hingegen nicht dokumentiert. Überhaupt sind Frauen innerhalb der Naturforschung um 1900 selten anzutreffen: Einige wenige Ehefrauen von Professoren waren selbst wissenschaftlich tätig, daneben gab es Frauen, die als Illustratorinnen von Pflanzen und Insekten wirkten.
Am Beispiel der Situation in Liestal beschreibt der Autor, wie das Schulhaus, dessen Alpsteingarten, der Schulteich und das angrenzende Wohnhaus des Zentrumsakteurs ein „Heimatensemble“ (Begriff des Autors in Bezug auf Foucaults Dispositiv-Begriff) darstellte, welches auch bei Exkursionen angestrebt wurde: Nicht nur das Wissen über die lokale Flora und Fauna sollte dabei vermittelt werden, sondern auch der Ausblick auf Hügel und Berge und die Praxis der Landwirtschaft wurden einbezogen. So wurde aus der naturkundlichen Lokalforschung eine Heimatwissenschaft, die sich an den lokalen Gegebenheiten und Praktiken orientierte.
Im Schlusskapitel fügt Scheidegger die Erkenntnisse der vorhergehenden Kapitel zusammen. Er hebt hervor, dass die ausseruniversitären Naturforscher ihre Tätigkeit selbst als „Petite Science“ bezeichneten und primär eine sammelnde, inventarisierende und beschreibende Naturforschung betrieben. Gleichzeitig hatten ihre Tätigkeiten in den porträtierten Kleinstädten ein grosses Gewicht und sie prägten die Vorstellung und Wahrnehmung der Bevölkerung von „Natur“, „Landschaft“ und „Heimat“ wesentlich mit.
Der Untersuchungszeitraum des Autors endet kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts. Er weist jedoch darauf hin, dass die lokalen naturhistorischen Museen zwischen 1970 und 1980 gänzlich reorganisiert wurden. Zudem erfuhr die „Heimatkunde“ im Schulunterricht in der Schweiz nach 1970 heftigen Gegenwind, da diese in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des deutschen Nationalbewusstseins gesehen wurde.
Tobias Scheidegger vermag in seiner Dissertation sehr anschaulich und anhand vieler Details aufzuzeigen, wie sich Naturforschende in Deutschschweizer Kleinstädten um 1900 organisierten, an welchen Themen sie interessiert waren und mit welchen Methoden sie ihrer Leidenschaft frönten. Er gliedert die Monographie in sieben gleichwertige Kapitel und ein synthetisierendes Schlusskapitel. Die vom Autor gewählte Sprache und die zahlreichen quellengestützten Anekdoten und Exkurse vermitteln zwischendurch den Eindruck, dass es sich eher um einen historisch fundierten Roman handelt und weniger um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Das heisst jedoch nicht, dass der elaborierte Umgang mit unterschiedlichen theoretischen Konzepten zu kurz kommt. Das theoretische Gerüst der Arbeit besteht aus unterschiedlichen Pfeilern, die der Autor geschickt zu verknüpfen vermag: Er orientiert sich an unterschiedlichen Strömungen der Erforschung von Wissenschaftsgeschichte. Methodisch arbeitet Scheidegger primär mit Fallbeispielen und biographischen Zugängen der zentralen Akteure.
Dadurch werden die Zentrumsakteure und deren Milieu erlebbar gemacht. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung wird in den Faziten der jeweiligen Unterkapitel sorgfältig aufbereitet und oft mit hilfreichen Fussnoten versehen. Was durch die gewählte Erzählform weniger einfach ist – um ein Haar in der Suppe zu nennen – ist die gezielte Suche nach Stichworten oder Themen die sich nicht aus den Kapitelüberschriften ergeben. Hierfür wäre ein Stichwortverzeichnis hilfreich gewesen. Dabei soll aber auch erwähnt sein, dass Scheidegger der Leserschaft nicht nur die üblichen Abbildungs-, Inhalts- und Literaturverzeichnisse präsentiert, sondern auch eine Zusammenstellung von deutschsprachigen Titeln naturkundlicher Anleitungsliteratur und ein Personenregister mit den wichtigsten Eckdaten aller erwähnten Personen aufführt. Zusammen mit den zahlreichen Abbildungen erklärt sich somit auch der Umfang von knapp über 700 Seiten dieses sorgfältig gestalteten Werkes.
Das Buch verdient eine breite Leserschaft: Die im Buch porträtierten Akteure forschten zu Themen, die heute in wissenschaftlichen Disziplinen wie Geographie, Biologie, Ökologie, Umweltwissenschaften, Ethnologie, Anthropologie, Geschichte untersucht werden. Insofern kann das Buch auch als Ausschnitt einer Disziplingeschichte gelesen werden und bietet interessante Querverweise. Interessant ist sie auch in Bezug auf Überlegungen zum heutigen Rollenverständnis von Vereinen wie z.B. der Geographisch-Ethnographischen Gesellschaft oder Naturforschenden Gesellschaften. Es ist davon auszugehen, dass durch die Verabschiedung des schweizerischen Natur- und Heimatschutzgesetzes (NHG) im Jahr 1966 die Deutungshoheit über Anliegen des Natur- und Heimatschutzes von den Naturforschenden Gesellschaften und „Schutzvereinen“ zusehends an staatliche Akteure übertragen wurde. Dabei wurden Errungenschaften der Naturforscher auch in gesetzliche Grundlagen und Instrumente übertragen, die bis heute gültig sind, wie z.B. die Schaffung des „Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN)“ oder die „Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission (ENHK)“. Entsprechend regt das Buch an, über das heutige Zusammenwirken der unterschiedlichen Akteure in der Biodiversitäts- und Landschaftspolitik nachzudenken. Und dabei wird einem bewusst, dass z.B. die Frage der Deutungshoheit über „schöne Landschaften“ oder „wertvolle Arten“ nach wie vor hoch aktuell ist.